In Belgien protestieren muslimische und katholische Gruppen gemeinsam gegen Sexualkunde. An acht Schulen wurden sogar Feuer gelegt. Diese Pädagogin macht trotzdem weiter.

Gebrannt hatte es bis letzte Woche noch nie. Seit Jahren leistet Virginie Devroye Aufklärungsarbeit an belgischen Schulen, wenn sie vorn im Klassenzimmer steht, wollen die Kinder viel wissen, erzählt die Pädagogin am Telefon: Neunjährige Schüler fragen sie zu Pornos, die ihnen Mitschüler über WhatsApp geschickt haben. An anderen Tagen erklärt sie Jugendlichen den Unterschied zwischen nicht-binären und trans Menschen. Sie spricht darüber, wie sich der Körper in der Pubertät verändert. Und meist zeigt Devroye ein Video: Ein Strichmännchen, dem ein anderes erst nach Wunsch, dann gegen den Willen Tee einflößt. Daran erklärt sie “Consent”, Zustimmung, zum Tee und auch zu körperlicher Nähe. Viele Kinder in Belgien hätten in ihrer Familie schon Übergriffe erfahren. Für sie sei Devroye oft die erste Person, mit der sie darüber sprechen können.

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Die Aufregung in Belgien ist neu, obwohl es Sexualkunde schon lange gibt. Doch zu Beginn des neuen Schuljahres hat das Parlament dazu ein Gesetz verabschiedet: Sexualkundeunterricht ist nun für Schüler im Alter von zwölf und 16 Jahren verpflichtend, mindestens zwei Stunden soll er dauern. “Evras” – so nennt sich im französischsprachigen Belgien, der Wallonie, der Unterricht zu Beziehungen, Gefühlen und Sexualität. Prompt bildete sich dagegen eine Koalition aus katholischen und muslimischen Hardlinern, Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremen. Seitdem haben acht belgische Schulen gebrannt, wurden beschmiert und verwüstet. In Belgien entlädt sich ein Kulturkampf um die sexuelle Aufklärung Jugendlicher. Die Polizei sucht nach den Tätern.

Eine Waffe in diesem Kulturkampf ist Desinformation. “Man kann unseren Kindern doch so etwas nicht antun”, kommentiert eine Nutzerin das neue Gesetz in einem Video auf X, ehemals Twitter. Mehr als 127.000-mal wurde es angeschaut, fast 2.000-fach geteilt. Die Stimme der Frau zittert, als breche sie gleich in Tränen aus. “Sie werden gezwungen, sich zu fingern”, sagt sie, wischt sich besorgt durchs Gesicht, runzelt ihre Stirn. “Es wird Tote geben.” Und dann: “Wenn du meine Mädchen anfasst, bringe ich dich um!” In einem anderen TikTok-Clip spielt dramatische Klaviermusik. Ein anonymer Nutzer erzählt vermeintlich von seinem Sohn: “Die Erzieher forderten ihn auf, die Genitalien eines kleinen Mädchens zu berühren.” Der Schulleiter hätte das Geschehen mit dem neuen Gesetz gerechtfertigt, sagt die verzerrte Stimme. Solche unüberprüfbaren Aussagen ohne jeglichen Kontext verbreiten sich, seit das Gesetz verabschiedet wurde.

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Belgische Medien haben mittlerweile recherchiert, wer hinter dem Protestnetzwerk steckt. Demnach finden sich dort ehemalige Corona-Impfgegner, Anhänger von Verschwörungstheorien, Klimaskeptiker. In der Gruppe sind Rechtsextreme genauso wie religiöse Fundamentalisten aus der katholischen Kirche und Islamverbänden. Seit Wochen arbeitet diese Koalition aus Erzkonservativen und Schwurblern daran, die neue Gesetzgebung zu untergraben.

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